Die Evolution der Eignungsdiagnostik – von der Antike bis zur künstlichen Intelligenz

Hogrefe feiert in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen und steht spätestens seit der Veröffentlichung des Intelligenz-Struktur-Tests IST 70 im Jahr 1973 für wissenschaftlich fundierte psychologische Diagnostik. Dieses Jubiläum bietet uns den perfekten Anlass, auf eine Zeitreise durch die Geschichte der Eignungsdiagnostik zu gehen.

Historie der Eignungsdiagnostik vom alten China bis hin zu Big Data und KI Das Bild wurde mit Hilfe künstlicher Intelligenz erstellt

Die Suche nach objektiven Methoden zur Beurteilung individueller Eignung hat eine faszinierende, jahrhundertealte Geschichte. Sie ist eng mit dem menschlichen Bestreben verknüpft, Fähigkeiten und Talente gerecht zu bewerten und zu fördern. Historisch diente die Eignungsdiagnostik zunächst vor allem staatlichen und militärischen Institutionen zur Auswahl kompetenter Beamter und Offiziere. Mit der Zeit fand sie jedoch auch Eingang in die Wirtschaft, um die richtigen Talente für die passenden Positionen zu identifizieren und die Leistungsfähigkeit und Effizienz von Organisationen zu steigern.

Beamtenauswahl, Psychotechnik und der erste Intelligenztest

Bereits im alten China (seit ca. 600 n Chr.) gab es eine hochentwickelte bürokratische Verwaltung, welche in starkem Maße auf den Prinzipien des Konfuzianismus beruhte. „Personalauswahl“ fand in Gestalt der kaiserlichen Prüfungen (kējǔ) statt. Diese hatten zum Ziel, die begabtesten und gelehrtesten Männer für den Staatsdienst zu rekrutieren. Sie basierten größtenteils auf Merkfähigkeit und dem Verständnis von klassischer Literatur und philosophischen Texten. Diese Auswahlverfahren waren vor allem auf intellektuelle Fähigkeiten ausgerichtet und die Kandidaten mussten ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in strengen Prüfungsverfahren unter Beweis stellen. Während diese Prüfungen keine Eignungsdiagnostik im heutigen Sinne waren, stellten sie doch den ersten Versuch dar, Auswahlverfahren zu standardisieren und legten den Grundstein für die Idee, dass bestimmte Kriterien gemessen werden können, um die Eignung für eine bestimmte Position zu bestimmen.

Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert stiegen die Qualifikationsanforderungen und mit ihnen das Bedürfnis, Arbeiter gezielt entsprechend ihrer Fähigkeiten einzusetzen. Durch die wissenschaftliche Betriebsführung des Ingenieurs Frederick Taylor wurde versucht, Arbeitsprozesse zu optimieren, was auch die Auswahl geeigneter Arbeiter einschloss. In der Folge entwickelte der Psychologe Hugo Münsterberg in den frühen 1900er Jahren die „Psychotechnik“: Er kombinierte psychologische Prinzipien mit technischen Anforderungen, um Arbeitskraft effizienter zu nutzen.

Pioniere wie Francis Galton und Charles Spearman entwickelten erste Modelle zur Messung von Intelligenz, die als Grundlage für die modernen Testdiagnostik dienen sollten. Zu den Meilensteinen gehörte die Entwicklung des ersten modernen Intelligenztests durch Alfred Binet und Théodore Simon im Jahr 1905. Dieser Test legte den Grundstein für die Messung kognitiver Fähigkeiten und wurde später von Lewis Terman weiterentwickelt, um den berühmten Stanford-Binet-Test zu schaffen. Diese halfen dabei, die intellektuellen Fähigkeiten der Kandidaten objektiver zu bewerten und die besten Talente auszuwählen.

Persönlichkeitsverfahren und erste Assessment Center

Während des Zweiten Weltkriegs wurden psychologische Testverfahren von verschiedenen Armeen eingesetzt, um Soldaten auszuwählen und ihre Fähigkeiten optimal einzusetzen. Diese Tests waren wegweisend für die spätere Entwicklung von Assessment Centern, in denen Kandidat*innen in simulierten Arbeitsumgebungen bewertet werden.

Im 20. Jahrhundert nahm die Eignungsdiagnostik mit dem steigenden Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften weiter Fahrt auf. Unternehmen begannen, systematisch Auswahlverfahren zu entwickeln, um die besten Bewerber*innen für ihre spezifischen Anforderungen zu identifizieren. Psychologische Tests wurden weiterentwickelt und die Breite des diagnostischen Methodenkoffers nahm zu. Es wurden zunehmend Persönlichkeitsverfahren, strukturierte Interviews und Arbeitsproben eingesetzt, um die Eignung der Kandidat*innen ganzheitlich bewerten zu können.

Die sogenannten „Management Progress Studies“ beim amerikanischen Telekommunikationsunternehmen AT&T in den 1960er Jahren leisteten hier einen wesentlichen Beitrag zur Eignungsdiagnostik, insbesondere durch die hier entwickelten Assessment Center Verfahren für angehende Führungskräfte und deren fortlaufende Evaluation. Die Assessment Center bei AT&T beinhalteten die Beobachtung und Bewertung von Verhalten, Fähigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften der Teilnehmer in verschiedenen Aufgaben und Situationen. Die Ergebnisse der Management Progress Study trugen dazu bei, die Verwendung von Assessment Centern in vielen Unternehmen weltweit zu etablieren. Unter der Leitung von Douglas Bray wurde in diesem Rahmen der Zusammenhang zwischen den Methoden in Assessment Centern und dem späteren Berufserfolg der Kandidat*innen untersucht. Die Studie zeigte als eine der ersten, dass Assessment Center ein prädiktives Instrument für den Erfolg von Managern sein können.

Moderne Assessment Center und multimodale Diagnostik

Mit dem Eintritt in das 21. Jahrhundert wurden Assessment Center zu einem wichtigen Instrument der Eignungsdiagnostik. Sie kombinieren verschiedene diagnostische Methoden, wie Rollensimulationen, Arbeitsproben, Fallstudien und Präsentationen, um die Kandidat*innen in unterschiedlichen simulierten Situationen zu beobachten und zu beurteilen. Fachlich fundierte und professionell durchgeführte Assessment Center ermöglichen es, eine Vielzahl von Kompetenzen, wie Kommunikationsstärke, Teamarbeit, Problemlösungskompetenz und Entscheidungsfindung realitätsnah zu erfassen.

Die Qualität und Vorhersageleistung von Assessment Centern wurde in den letzten Jahrzehnten umfassend beforscht und durchaus kontrovers diskutiert. Es kann jedoch auch heute noch festgehalten werden, dass fachlich gut konstruierte und professionell durchgeführte Assessment Center Verfahren sehr effektiv sind, um die Kompetenzen von Kandidat*innen in verschiedenen, auch praktischen Situationen zu beurteilen und ihre Eignung für spezifische Aufgaben zu ermitteln. 

Gleichzeitig sollte in der Praxis immer der Fokus darauf gelegt werden, wie der Einsatz von Assessment Centern weiter optimiert werden kann, insbesondere durch Standardisierung, die Objektivität und Fairness des Prozesses verbessert. Besondere Relevanz kommt einem multimedialen Vorgehen im diagnostischen Prozess zu. Die Kombination von simulativen Bestandteilen mit weiteren validen diagnostischen Methoden, insbesondere strukturierten Interviews sowie validen Testverfahren zur Messung von kognitiver Leistung und anforderungsrelevanten Persönlichkeitsmerkmalen, ermöglichen es, ein umfassendes Bild der Kandidat*innen zu erhalten.

Digitalisierung, Big Data und KI

Die digitale Revolution hat in den letzten drei Jahrzehnten zu einem Paradigmenwechsel in der Eignungsdiagnostik geführt. Computergestützte Testverfahren, Online-Assessments und Videointerviews ermöglichen eine flexiblere, schnellere und umfassendere Datenerhebung und -auswertung.

Die Verfügbarkeit großer Datenmengen (Big Data) und der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) haben die Eignungsdiagnostik in jüngster Zeit ebenfalls revolutioniert. Algorithmen und maschinelles Lernen können schon heute dazu beitragen, Vorhersagen über die Eignung von Kandidat*innen zu treffen. Unternehmen nutzen z. B. KI-Tools, um anhand von sprachlichen Mustern in Interviews oder sozialen Medienprofilen die Persönlichkeit und Leistungsfähigkeit zu analysieren.

Trotz der Fortschritte, die Big Data und künstliche Intelligenz bieten, herrscht in der Branche auch eine kritische Diskussion über die ethischen Aspekte des Einsatzes solcher Technologien in der Eignungsdiagnostik. Fragen bezüglich des Datenschutzes, des Schutzes der Privatsphäre von Kandidat*innen und der Möglichkeit von Verzerrungen und Diskriminierungen durch Algorithmen spielen eine immer größere Rolle. Forschungen haben gezeigt, dass Algorithmen dazu neigen, bestehende Vorurteile zu verstärken, indem sie beispielsweise bestimmte Sprachmuster, die kulturell bedingt sind, als positiv oder negativ bewerten. Um dies zu verhindern, setzen immer mehr Unternehmen auf „bias-free AI“, bei der Algorithmen so gestaltet werden, dass sie mögliche Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, Ethnie oder sozialem Hintergrund minimieren. Ethik-Boards und externe Audits, die die Fairness von KI-Systemen überwachen, gewinnen an Bedeutung, um sicherzustellen, dass diese Technologien den Grundsätzen der Chancengleichheit entsprechen. Trotz dieser Fortschritte bleibt die Debatte über ethische Fragen, wie Datenschutz und Verzerrungen durch Algorithmen, relevant.

Personalverantwortliche müssen heute mehr denn je sicherstellen, dass eignungsdiagnostische Werkzeuge fair und gesetzeskonform eingesetzt werden und die Grundsätze der psychologischen Diagnostik, nämlich Objektivität, Reliabilität und Validität, erfüllen.

Vielfalt von diagnostischen Verfahren und Anwendungsbereichen

In heutiger Zeit ist die Palette an diagnostischen Verfahren breit gefächert: Sie reicht von klassischen Intelligenztests, Persönlichkeitsverfahren, berufsspezifischen Verfahren über situative Testverfahren über Simulationsverfahren und Assessment Center bis hin zu KI und Big Data Analysen. Ein weiterer Trend in der Eignungsdiagnostik der letzten Jahre ist die „Gamification“. Hierbei werden spielerische Elemente in den diagnostischen Prozess integriert, um Fähigkeiten wie Problemlösungsstrategien, Entscheidungsfindung und Zusammenarbeit auf eine neue und für Kandidat*innen attraktivere Weise zu erfassen. In simulierten Spielsituationen, die auf realen Arbeitsanforderungen basieren, wird das Verhalten der Teilnehmer*innen in einem entspannteren Umfeld beobachtet. Die Genauigkeit der Vorhersage solcher Verfahren sowie die Akzeptanz auf Kandidatenseite wird aktuell weiter erforscht.

Um den hohen Anforderungen der Praxis gerecht zu werden, müssen heutige eignungsdiagnostische Instrumente flexibel einsetzbar sein. Dazu gehört z. B. die kombinierte Verwendung von Online- und Assessments in Präsenz, um beispielweise eine Vorauswahl zu treffen und anschließend im Interview oder Assessment Center tiefergehende Einblicke in das Verhalten der Kandidat*innen zu erhalten.

In den letzten Jahren hat sich der Fokus der Eignungsdiagnostik außerdem zunehmend auf die Förderung von Diversität und Inklusion verschoben. Unternehmen erkennen die Bedeutung der Vielfalt am Arbeitsplatz und suchen nach Möglichkeiten, um Vorurteile und Diskriminierung bei der Rekrutierung zu vermeiden. Anonymisierte Bewerbungsverfahren, Algorithmen zur Vermeidung von Bias und Sensibilisierungstrainings für Personalverantwortliche sind einige der Maßnahmen, die Unternehmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Auswahlverfahren gerecht und diskriminierungsfrei ablaufen.

Zusammenfassung und Ausblick

Die Eignungsdiagnostik hat seit ihren Anfängen im alten China eine beeindruckende Entwicklung durchlaufen. Im 21. Jahrhundert angekommen, steht die Profession vor der Herausforderung, technologische Fortschritte sinnvoll zu nutzen, ohne die individuellen Rechte der Bewerber*innen aus den Augen zu verlieren. Die Zukunft der Eignungsdiagnostik wird in einem zunehmend globalisierten Arbeitsmarkt auch von interkultureller Kompetenz und der Fähigkeit bestimmt, kulturelle Unterschiede bei der Bewertung von Eignung fair zu berücksichtigen und deren Potenzial nutzbar zu machen.

Literatur

Bray, D. W., Campbell, R. J., & Grant, D. L. (1974). Formative years in business: A long-term AT&T study of managerial lives. New York: Wiley.

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Ontrup, G., Hagemann, V. & Kluge, A. (2024). HR-Analytics. Hogrefe Verlag.

Petermann, F. & Daseking, M. (2015). Diagnostische Erhebungsverfahren. Hogrefe Verlag.

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Schuler, H. (2014). Psychologische Personalauswahl: Einführung in die Berufseignungsdiagnostik. Hogrefe Verlag.

Schuler, H., & Kanning, U. P. (2014). Lehrbuch der Personalpsychologie. Hogrefe Verlag.

Sonntag, K., Frieling, E. & Stegmaier, R. (2012). Lehrbuch Arbeitspsychologie. Hogrefe Verlag.

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