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Autismus-Spektrum-Störungen

In Kürze erscheint der Band über Autismus-Spektrum-Störungen in der Reihe Psychologie im Schulalltag. Die beiden Autorinnen des Bandes, Karoline Teufel und Sophie Soll, erläutern im Gespräch einige wichtige Aspekte für den Umgang mit Kindern mit einer ASS-Diagnose in der Schule.

Der Name „Autismus-Spektrum-Störungen“ sagt bereits aus, dass es sich um ein vielschichtiges Störungsbild handelt. Welche Gemeinsamkeiten gibt es?
Trotz der vielfältigen Erscheinungsbilder im Spektrum bestehen Gemeinsamkeiten in den Bereichen der sozialen Interaktion und der Art der Kommunikation sowie in den besonderen Interessen und Verhaltensweisen. Wie bei allen anderen Menschen auch, kann man deswegen nicht von einem auf alle schließen. Das macht einerseits die Arbeit mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum so spannend und vielfältig – für die einzelne Schüler*in mit ASS den Alltag häufig aber auch beschwerlich, da z.B. die Lehrkräfte sich auf jede neuen Schülerin und jeden neuen Schüler mit ASS immer ein Stück weit neu einstellen müssen.

Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch vor allem mit den Auswirkungen auf den schulischen Alltag. Wie wahrscheinlich ist es überhaupt, im Schulalltag auf Kinder mit ASS zu treffen, wie häufig ist das Störungsbild?
Wie wir in unserem Buch schreiben, ist laut aktueller S3-Leitlinie ca. eines von 160 Kindern betroffen. Wenn wir davon ausgehen, dass jede Klasse ca. 27 Schüler*innen hat, könnte also rein statistisch in jeder fünften bis sechsten Klasse ein Kind bzw. ein junger Mensch mit ASS zu finden sein, pro Jahrgang also ca. eine Schüler*in mit ASS. Ein bisschen hängt es aber auch von der jeweiligen Schule ab, wie viele Schüler*innen aus dem Autismus-Spektrum anzutreffen sind.

Mit welchen Besonderheiten im Verhalten von Kindern mit ASS müsste man z.B. im Unterricht rechnen, könnten Sie einige Beispiele nennen?
Was uns immer wieder berichtet wird, sind Missverständnisse, die aufgrund der oft sehr konkretistischen oder wortwörtlichen Denkweise von Menschen mit ASS entstehen – mit den Lehrkräften, aber vor allem auch mit den Mitschüler*innen. Leider führt das oft dazu, dass Schüler*innen mit ASS ausgeschlossen werden, obwohl sie sich eigentlich soziale Kontakte wünschen. Auch die besonderen Interessen könnten eine Rolle spielen, da diese seltener von Mitschüler*innen geteilt werden. Neben den sozialen Herausforderungen gibt es auch solche, die das Lernen beeinflussen. Und natürlich gibt es auch viele positive Besonderheiten, wie eine erfrischende Ehrlichkeit, eine oftmals gute Aufmerksamkeit für Details und ganz allgemein ein besonderer Blick auf die Welt und unser Miteinander.

 

Verhaltensplan zum Ankommen in der Schule (aus: Autismus-Spektum-Störungen)

Inklusion ist immer eine Herausforderung, gibt es bei Kindern mit ASS bestimmte Methoden, die den Schulalltag für alle Seiten vereinfachen könnten?
Besonders gut bewährt haben sich sog. visuelle Strukturierungshilfen. Diese können z.B. zeitliche oder räumliche Orientierung bieten oder auch bestimmte Abläufe veranschaulichen. Sie geben Struktur und liefern somit eine gewisse Vorhersehbarkeit im Schulalltag und wirken entsprechend auch präventiv für herausfordernde Verhaltensweisen wie z.B. Anspannungszustände.

Sie betonen in Ihrem Buch, dass man ressourcenorientiert vorgehen sollte, gibt es bestimmte Stärken bei Kindern mit ASS, die gefördert werden könnten?
Unbedingt. Viele Menschen aus dem Autismus-Spektrum haben z.B. eine Stärke in der Verarbeitung visueller Informationen. Das kann und sollte im Alltag und auch im Schulalltag gefördert und genutzt werden. Darüber hinaus gibt es natürlich auch individuelle Stärken, wie z.B. eine große Expertise in einem individuellen Sonderinteresse. Es ist also immer eine gute Idee, auf die Stärken zu schauen und nicht nur Defizite zu sehen.

Besonders schwierig ist der Umgang mit Herausforderndem Verhalten. Gibt es eine empfehlenswerte Grundhaltung für die Lehrkraft?
Diese Verhaltensweisen stellen nicht nur das Umfeld vor Herausforderungen, sondern in der Regel auch den Lernenden selbst. Man sollte sich daher immer fragen, was das Schulkind braucht, um sich anders verhalten zu können. Auch wenn es in solchen Situationen vielleicht schwerfällt, hat es sich also bewährt, sich gemeinsam den Auslösern zu stellen, um das Verhalten langfristig zu verändern, statt „gegeneinander“ zu arbeiten. Das erfordert Geduld und Einfühlungsvermögen, aber auch eine gewisse Kreativität.  

Sie haben langjährige Erfahrungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Gab es eine Begegnung oder eine Problemstellung, die Sie besonders berührt hat?
Begegnungen, die dazu führen, dass sich die Kinder und Jugendlichen verstanden fühlen, sind die wertvollsten, da sie oft einen langen Leidensweg haben und endlich den Grund dafür kennen, warum das ein oder andere sehr holprig gelaufen ist. Dann kann man gut in die Arbeit einsteigen und konkrete Verbesserungen planen und gemeinsam umsetzen; z.B. eine passende Schule oder Ausbildung finden. Am schönsten ist es, wenn sie Strategien erfolgreich ausprobieren konnten und sich selbstsicherer und unabhängiger fühlen. Dann wachsen sie über sich selbst hinaus – und wir ein Stückchen mit.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Dipl.-Psych. Karoline Teufel

Dipl.-Psych. Karoline Teufel, 2003 – 2009 Studium der Psychologie an der Goethe Universität Frankfurt. Seit 2009 therapeutische und diagnostische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit AutismusSpektrum-Störungen. Seit 2015 Leiterin des Autismus-Therapie- und Forschungszentrums der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Goethe-Universität Frankfurt. Forschungsschwerpunkte: Autismus-Spektrum-Störungen und frühe kindliche Meilensteine der Entwicklung.

Dipl.-Päd. Sophie Soll

Dipl.-Päd. Sophie Soll, 2003 – 2010 Studium der Psychologie und Erziehungswissenschaften in Marburg/Lahn und approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (VT). Von 2011 bis 2020 Therapeutin und Diagnostikerin im Autismus-Therapie- und Forschungszentrum der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Goethe-Universität Frankfurt. Seit 2019 in einer eigenen psychotherapeutischen Praxis für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Störungsbildern niedergelassen.

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Das sagt der Dorsch zu:

Autismus-Spektrum-Störungen (= ASS) [engl. autism spectrum disorder; gr. αὐτός(autos) selbst]; umfassen eine Gruppe heterogener, meist angeb. Störungen mit frühem Beginn. Grundlegendes Funktionsmerkmal ist die Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation, die jedoch im Ausprägungsgrad stark variieren kann. ...

 

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