Autismus im Erwachsenenalter: Psychotherapeutische Zugänge, Herausforderungen und Chancen

Von Dr. Sanna Stroth, Dr. Anika Langmann, Prof. Dr. Inge Kamp-Becker.

Der Bedarf an fundierten therapeutischen Angeboten für erwachsene Menschen mit Autismus hat in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit erhalten. Autismus wird als neuronale/neuromentale Entwicklungsstörung verstanden, die durch von früher Kindheit an bestehende und anhaltende Beeinträchtigungen in den Bereichen soziale Interaktion, Kommunikation sowie eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten, die sich störend auf andere Aktivitäten und den Alltag auswirken, gekennzeichnet ist. Die Symptomatik ist mit einer klinisch bedeutsamen Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verbunden und ein durchgängiges Merkmal der Person. Sie bleibt ein Leben lang bestehen, verändert sich aber im Verlauf und insbesondere bei Erwachsenen liegen zusätzlich vielfältige psychische Belastungen wie Depressionen, Angststörungen oder Stresssymptome vor. 

Autismus im Erwachsenenalter Frau allein in Mauerloch Blick in die Ferne Bild: Getty images

Psychotherapie zielt daher nicht schwerpunktmäßig auf die Reduktion der Kernsymptomatik ab, sondern darauf, individuelle Entwicklungsmöglichkeiten zu fördern. Das zentrale Ziel besteht darin, die Lebensqualität zu verbessern, die soziale Teilhabe zu erweitern und den Betroffenen zu ermöglichen, ihre eigenen Ressourcen zu nutzen und Grenzen zu akzeptieren. Die therapeutische Arbeit richtet sich dabei insbesondere auf begleitende Probleme, etwa Überforderung im Alltag, soziale Isolation oder Schwierigkeiten in der Stressbewältigung.

Therapieziele und grundlegende Prinzipien

Die S3-Leitlinie definiert als übergeordnete Therapieziele die Verbesserung der Lebensqualität und die Teilhabe. Dies schließt die Erweiterung kommunikativer und sozialer Kompetenzen, den Aufbau lebenspraktischer Fähigkeiten und die Reduktion von problematischem Verhalten ein. Im Vordergrund steht, dass Betroffene ihr eigenes Verhalten besser verstehen, reflektieren und steuern lernen. Dies stärkt das Gefühl von Selbstwirksamkeit und kann weiteren psychischen Problemen vorbeugen.

Die Therapie sollte klar strukturiert und transparent gestaltet sein. Ein vorhersehbarer Ablauf, verständliche Sprache, Visualisierungen sowie konkrete Zielvereinbarungen nach der SMART-Formel (spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch, terminiert) bieten Orientierung und Sicherheit. Besonders wichtig ist ein kleinschrittiges Vorgehen mit vielen Übungseinheiten, die in verschiedenen Kontexten wiederholt werden, um eine Generalisierung des Gelernten zu fördern. Dabei sollte die Therapeutin / der Therapeut stets – wie in allen Psychotherapien - eine wertschätzende, geduldige Haltung einnehmen und die individuellen Möglichkeiten und Grenzen der Patient*innen berücksichtigen.

Setting und Organisation der Therapie

Die Wahl des Settings ist entscheidend für den Therapieerfolg. Es ist daher abzuwägen, ob eine ambulante, stationäre, Gruppen oder Einzel-Behandlung indiziert ist. Die S3-Leitlinie empfiehlt eine manualisierte Gruppentherapie über drei bis sechs Monate, die soziale Kompetenzen in einem geschützten Gruppen-Setting trainiert. Obwohl viele Menschen mit Autismus Gruppen als Herausforderung empfinden, zeigt sich häufig, dass gerade diese Struktur Lernchancen bietet, die im Einzelsetting schwer umzusetzen sind. Übungen wie Rollenspiele, Situationsanalysen und Feedbackrunden ermöglichen ein praxisnahes Training.

Einzeltherapie ist angezeigt, wenn Gruppentherapie nicht möglich oder nicht sinnvoll ist – etwa zur Vorbereitung auf Gruppensettings oder bei spezifischen individuellen Herausforderungen. Hier bietet sich der Raum für intensive Bearbeitung individueller Themen und die Vorbereitung auf soziale Interaktionen. Wichtig ist die Einbindung von Alltagsübungen und die Unterstützung durch Bezugspersonen, um den Transfer in den Alltag zu sichern.

Die therapeutische Beziehung

Eine stabile therapeutische Beziehung ein zentraler Wirkfaktor der Psychotherapie und ist für Menschen mit Autismus von Bedeutung. Da soziale Interaktion und Kommunikation erschwert sind, erfordert der Beziehungsaufbau besondere Aufmerksamkeit. Direkte, klare Kommunikation ohne Ironie, Metaphern oder Doppeldeutigkeiten ist ebenso wichtig wie ein realistisches Erwartungsmanagement: Auch Rückschläge gehören zum Prozess. Frühzeitige Krisenpläne, die gemeinsam erarbeitet werden, helfen, schwerwiegenden Eskalationen vorzubeugen. Da die Transferleistung bei vielen Betroffenen eingeschränkt ist, müssen therapeutische Inhalte mehrfach und in unterschiedlichen Zusammenhängen geübt werden.

 

Wichtige Therapiebausteine

Psychoedukation und individuelle Störungsmodelle

Ein zentrales Element der Therapie ist die Psychoedukation: Sie vermittelt Wissen über Autismus, über die zusätzlich vorliegende Symptomatik bzw. Störungen sowie die individuelle Ausprägung der Symptomatik. Viele Betroffene verfügen nur über bruchstückhaftes bzw. klischeehaftes Wissen über ihre Diagnose/n; hier gilt es, gemeinsam ein realistisches und individuelles Störungsmodell zu erarbeiten, welches die Einstellungen, Erwartungen, Verhaltensweisen und deren Konsequenzen aller Beteiligten umfasst. Dieses Modell hilft zu klären, welche Symptome mit der Diagnose zusammenhängen, welche Veränderungswünsche bestehen und welche Aspekte als weniger veränderlich akzeptiert werden müssen.

Psychoedukation umfasst auch die Reflexion der Bedeutung der Diagnose für das Selbstbild. Gerade bei Erwachsenen spielt die Auseinandersetzung mit Fragen wie „Was ist Teil meines Autismus und was Teil meiner Persönlichkeit?“ eine große Rolle für die Entwicklung von Selbstakzeptanz und Identität.

Emotionserkennung und soziale Wahrnehmung

Ein weiterer wichtiger Baustein ist das Training von Emotionserkennung und sozialer Wahrnehmung. Menschen mit Autismus haben oft Schwierigkeiten, Emotionen bei sich und anderen korrekt zu identifizieren und einzuordnen. Übungen zur Erkennung von Basisemotionen (Freude, Angst, Wut, Trauer usw.) sowie deren typischen Auslösern und Ausdrucksformen bilden die Grundlage. Rollenspiele und visuelle Hilfen vertiefen die Lernerfahrungen.

Hierbei ist es wichtig, die situative Bedingtheit von Emotionen zu vermitteln und nicht nur statische Erkennungsmerkmale zu lehren. Die Integration von Emotionen in soziale Kontexte wird geübt, sodass Patient*innen lernen, Emotionen in zwischenmenschlichen Situationen besser zu interpretieren und angemessen darauf zu reagieren.

Kommunikations- und Kontaktverhalten

Kommunikationstraining fokussiert sich auf die Entwicklung von Gesprächsregeln, die Förderung der Wechselseitigkeit im Gespräch und den Aufbau sozialer Fertigkeiten. Themen wie Smalltalk, der von vielen Menschen mit Autismus als besonders verwirrend empfunden wird, werden schrittweise erarbeitet und eingeübt. Wichtig ist eine differenzierte Betrachtung verschiedener Kommunikationskontexte, etwa berufliche Gespräche vs. Freizeitgespräche. Rollenspiele und Situationsanalysen unterstützen dabei, die gelernten Fertigkeiten praxisnah zu festigen.

Emotions- und Stressregulation

Viele Erwachsene mit Autismus erleben starke emotionale Reaktionen und haben Schwierigkeiten in der Emotionsregulation. Die Therapie verfolgt das Ziel, Emotionen und deren Auslöser besser wahrzunehmen, einzuordnen und geeignete Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Dies wird ergänzt durch die Entwicklung von Stressbewältigungsstrategien, da Menschen mit Autismus häufig ein erhöhtes Stressniveau aufweisen und geringere Ressourcen zur Regulation besitzen. Ein strukturierter Aufbau von Kompetenzen zur Selbstberuhigung und zum Abbau von Anspannung steht dabei im Vordergrund.

Problemlösung und Konfliktmanagement

Die Förderung von Problemlösefähigkeiten ist ein zentrales Element, um Alltagssituationen besser bewältigen zu können. Mithilfe von Situationsanalysen lernen Patient*innen, ihr eigenes Verhalten in sozialen Kontexten zu reflektieren, problematische Muster zu erkennen und alternative Verhaltensweisen zu entwickeln. Diese Übungen sollen  die Selbstwirksamkeit stärken und helfen, soziale Konflikte besser zu bewältigen.

Alltag, Beruf und Teilhabe

Die Psychotherapie sollte nicht nur die Bewältigung von Symptomen, sondern auch die Entwicklung praktischer Fähigkeiten für den Alltag unterstützen. Themen wie Selbstorganisation, Haushaltsführung oder berufliche Integration spielen eine große Rolle. Da viele Betroffene Schwierigkeiten im Umgang mit ungeschriebenen sozialen Regeln am Arbeitsplatz haben, kann die Therapie auch hier wichtige Impulse geben.

Fazit

Psychotherapie für erwachsene Menschen mit Autismus erfordert ein individuell angepasstes, strukturiertes und verhaltensorientiertes Vorgehen. Neben der Reduktion von als belastend erlebten Symptomen, geht es vor allem um die Stärkung von Ressourcen, den Aufbau neuer Fähigkeiten und die Förderung von Teilhabe und Lebensqualität. Eine klare, wertschätzende Haltung der Therapeut*innen sowie Motivation, Geduld und Kontinuität im therapeutischen Prozess sind dabei wesentliche Erfolgsfaktoren, um nachhaltige positive Veränderungen zu erreichen.

Dr. Sanna Stroth

Dr. Sanna Stroth, geb. 1977. 1999-2003 Studium der Psychologie in Marburg und Heidelberg. 2004-2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Ulm. 2007 – 2013 Psychologische Psychotherapeutin bei „arbeit & integration e.V.“ in der beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Störungen. 2009 Promotion. 2008 – 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für experimentelle Psychopathologie der Heinrich‐Heine Universität Düsseldorf. Seit 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Philipps-Universität-Marburg. 2015 Approbation, Fachrichtung Verhaltenstherapie. Seit 2024 Leitung des Marburger Institut für Autismusforschung und Therapie. Arbeitsschwerpunkt: Biomarkerforschung in der Diagnostik und Therapie von Entwicklungsstörungen.

Dr. Anika Langmann

Dr. Anika Langmann, geb. 1982. Studium der Psychologie, Germanistik und Anglistik in Bamberg und Edinburgh, Schottland. 2010-2011 DAAD-Sprachassistenz an der University of Sheffield, England. 2011-2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg. 2012-2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Lehr- und Studienqualität der Freien Universität Berlin. Seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Philipps-Universität Marburg. 2018 Promotion. 2019 Approbation als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin, Fachrichtung Verhaltenstherapie.

Prof. Dr. Inge Kamp-Becker

Prof. Dr. Inge Kamp-Becker, geb. 1961. 1983-1989 Studium der Psychologie in Münster. 1989-1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin Psychologisches Institut Universität Münster, 1994 Promotion; 1991-2000 klinische Tätigkeiten an Beratungsstelle und Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie; 2001- 2024 wissenschaftliche Mitarbeiterin, leitende Psychologin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Marburg (Leitung der Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen, Kleinkindsprechstunde, stellvertretende Leitung der Ambulanz der Klinik), 2011: Habilitation, 2014: W2-Professur für Autismus-Spektrum-Störungen; seit 2024 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Heidelberg.

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Das sagt der Dorsch zu:

Autismus-Spektrum-Störungen (= ASS) [engl. autism spectrum disorder; gr. αὐτός(autos) selbst]; umfassen eine Gruppe heterogener, meist angeb. Störungen mit frühem Beginn. Grundlegendes Funktionsmerkmal ist die Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation, die jedoch im Ausprägungsgrad stark variieren kann. …

 

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